FRANZÖSISCHE
KRIEGSGEFANGENE
IN DEUTSCHLAND
1870/71
Prof. Dr.
Manfred Botzenhart, emeritierter Hochschullehrer für Neuere Geschichte
am Historischen Seminar der Universität Münster wurde in Berlin geboren,
verbrachte aber den größten Teil seiner Kindheit und Jugend in Göttingen.
Nach kurzem Studienaufenthalt in Freiburg studierte er seit 1954 an der Universität
Münster Geschichte, Alte Geschichte und Archäologie. Parallel dazu
arbeitete er an der Edition der Freiherr-von-Stein-Ausgabe mit, deren fünften
Band er 1964 verantwortlich herausgabe.
Die Zeit des Wiener Kongresses, die Botzenhart in diesem Band schwerpunktmäßig
bearbeitete, bildete auch für viele Jahre den Hauptgegenstand seines wissenschaftlichen
Interesses. Angeregt von Prof. Dr. Kurt v. Raumer, dessen Assistent er bald
wurde, legte er 1966 eine Dissertation über "Metternichs Pariser Botschafterzeit"
vor . Für diese aufschlussreiche Arbeit, in der die Grundgedanken der Außenpolitik
eines der wichtigsten europäischen Staatsmänner der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts dargelegt wurden, erhielt Botzenhart auch den Fakultätspreis
der Philosophischen Fakultät in Münster.
Botzenhart beschäftigte sich aber nicht nur mit den Kräften, die,
wie Metternich, den Status quo erhalten, sondern auch mit denen, die die Geschichte
verändern wollten. In seiner 1974 vorgelegten Habilitationsschrift beschrieb
er ausführlich die Entwicklung des Parlamentarismus im ausgehenden Vormärz
und während der Revolution von 1948/49. Diese von Gerhard A. Ritter betreute
Arbeit ist bis heute ein Standardwerk der Forschung.
1975 wurde Manfred Botzenhart zum Professor für Neuere Geschichte am Historischen
Seminar der Universität Münster ernannt, an dem er bis zu seiner Emeritierung
1997 lehrte und forschte. Der schwierige Weg Deutschlands zu einem parlamentarischen,
demokratischen Staatswesen stellte in dieser Zeit einen wesentlichen Gegenstand
seiner Forschungstätigkeit dar. Die dabei entstandene Monographie über
"Deutschland 1789-1847" (1985), seine "Deutsche Verfassungsgeschichte
1806-1949" (1993) und sein Buch über "1848/49: Europa im Umbruch"
(1998) sind unentbehrlich für jeden Geschichtsstudenten.
Neben der Forschung hatte auch die Lehre für Prof. Botzenhart einen hohen
Stellenwert. Unzählige Studenten, denen er geduldig und mit großer
Hilfsbereitschaft gegenübertrat, haben an oft überfüllten Seminaren
teilgenommen oder bei ihm ihr Staatsexamen abgelegt. Trotz großer Überlastung
hat er darüber hinaus auch zahlreiche Dissertationen angeregt und betreut.
Seit einiger Zeit arbeitet Prof. Botzenhart an einer Studie, die das Schicksal
der Kriegsgefangenen im 19. Jahrhundert in international vergleichender Perspektive
behandelt.
Kriegsgefangene
gehören zu den vergessenen Opfern der Geschichte. Obwohl allen Zeiten
Männer aus sämtlichen sozialen Schichten häufig über
lange Jal hinweg unverschuldet dieses Schicksal extremer Fremdbestimmung
und größten Leides erdulden mußten, habens sich Geschichtswissenschaft
und Militärgeschichte bis heute kaum mit ihnen beschäftigt.
Forschungen über die Lage von Kriegsgefagenen fordern zu internationalen
und interdisziplinären Arbeitsprojekten heraus welche das Völkerrecht,
die Literaturwissenschaft, Medizin und Psychologie sowie schliesslich
auch die Wirtschaftswissenschaften mit zu umfassen hätten. Auch die
moderne Friedensforschung ist an dieser Thematik bisher vorbeigegangen.
Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Behandlung der Kriegsgefangenen unter
dem Aspekt wechselseitiger Vorwürfe über Völkerrechts-
und Menschenrechtsverletzungen vorübergehend stark diskutiert worden,
und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind Deutschland umfangreiche Dokumentationen
und zahlreiche, meist von den Betroffenen selbst verfasste Darstellungen
zum Schicksal der Kriegsgefangenen erschiene Die Geschichtswissenschaft
hat davon bisher aber nur wenig Notiz genommen. Für den deutsch-französischen
Krieg von 1870/71 liegt bislang von französischer Seite offenbar
keine einzige Untersuchung zum Kriegsgefangenenproblem vor, von deutscher
Seite nur eine von der Forschung bisher übersehene ältere Dissertation1
und den grossen Gesamtdarstellungen des Krieges verschwinden die Gefangenen
mit der Kapitulation der Festungen spurlos von der Bildfläche. |
1 Helene HEIDE, Die französischen Kriegsgefangenen in Deutschland während des Krieges 1870/ Diss. Köln 1959, Rinteln 1960. Die 95 Seiten umfassende, zu Unrecht vergessene Arbeit wurde mir erst nach Fertigstellung des Manuskripts für diesen Aufsatz bekannt. Sie beruht zu wesentlichen Teilen auf dem gleichen Archivmaterial, teilt daraus eine Fülle von Einzelheiten mit und bestätigt die These, dass sich die deutschen Behörden um eine Bute und menschenwürdige Behandlung der Gefangen bemühten. |
Dieser Aufsatz ist eine wesentlich erweiterte Fassung Bines Kurzreferates, das im April 1992 auf einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Washington gehalten wurde2 und er darf als eine Art « Pilotstudie » zu einem grösseren Forschungsprojekt bezeichnet werden, das die Kriegsgefangenenfrage vom Ausgang des Ancien Régime bis zum Ende des Ersten Weltkriegs behandeln soll3. Da die einschlägigen Bestände des preussischen Heeresarchivs als vernichtet gelten müssen, bilden hier die Bestände des Bayerischen Kriegsarchivs und des Württembergischen Hauptstaatsarchivs die wesentliche Quellengrundlage. Das Archiv des "Service Historique de l'Armée de Terre" im Château de Vincennes enthält leider nur sehr wenige, bruchstückhafte Materialien, an Hand derer die aus deutschen Quellen gewonnenen Ergebnisse kontrolliert und korrigiert werden können4. Ergiebiger sind in dieser Hinsicht Archiv und Bibliothek des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. |
2
Die Tagung vom 1. bis 4. April 1992 stand unter dem Thema: "On the
Road to Total War: The American Civil War and the German Wars of Unification,
1861-1871«. Für die Erlaubnis, an die, Stelle im Vorgriff auf
den Tagungsbericht eine ungekürzte und ergänzte Fassung meines
Referates veröffentlichen zu dürfen, bin ich dem Deutschen Historischen
Institut in Washington zu grossem Dank verpflichtet. 3 Die bislang beste, wenn auch mittlerweile veraltete Darstellung des Kriegsgefangenenrechts seit der Antike bietet Franz SCHEIDL, Die Kriegsgefangenschaft von den ältesten Zeiten bis zut Gegenwart, Berlin 1943. 4 Es handelt sich vornehrnlich um den nicht besonders gut geordneten Bestand LT 23-27 (Guerre 1870-1871, justice Militaire). Für Hinweise auf Erinnerungen oder Briefe französischer Gefangener in anderen Archiven oder in Privatbesitz wäre der Verfasser augerordentlich dankbar. |
Im
deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ergab sich erstmals in der
europäischen Geschichte das Problem, grosse Massen von Kriegsgefangenen
unterzubringen und zu versorgen. Im älteren Europa hatte sich diese
Frage vor allem deshalb nicht gestellt, weil es üblich war, Kriegsgefangene
noch während der Feldzüge in kurzen Abständen auf Grund
von Kartellen auszuwechseln, die zwischen den Heerführern nach im
wesentlichen gleich bleibenden Grundsätzen abgeschlossen wurden.
Gefangene gleicher Dienstgrade sollten danach Mann gegen Mann ausgetauscht
werden. Ging diese Rechnung nicht auf, konnten auch mehrere einfache Soldaten
gegen einen Offizier ausgewechselt und etwa noch übrig bleibende
Gefangene gegen Geld ausgelöst (ranzioniert) werden. Dabei war ein
General das Vielfache eines Grenadiers wert. Nach den Bestimmungen des
Auswechsel-Kartells zwischen Preussen und Osterreich-Ungarn vom 9. Juli
17415 zum Beispiel
stand ein Generalfeldmarschall mit 3000 Köpfen oder 15000 Gulden
zu Buch und war damit 500 mal so viel wert wie ein Leutnant, der seinerseits
sechs einfache Soldaten aufwog. Auch Freikauf aus eigenen Mitteln war
möglich. Der wahrscheinlich erste völkerrechtliche Vertrag mit Bestimmungen über den Schutz und die menschenwürdige Behandlung von Soldaten während der Gefangenschaft ist der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preussen und den Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahre 1785.6 Hier wurde in Art. 24 verboten, Gefangene in ferne Gebiete zu verlegen oder sie ungesundem Klima auszusetzen. Sie durften nicht in Gefängnissen untergebracht oder sonst wie Strafgefangene behandelt werden. Sie hatten Anspruch auf die gleiche Unterkunft und Verpflegung wie die Truppen der Gewahrsamsmacht und hatten das Recht, Hilfssendungen zu erhalten und mit der Heimat zu korrespondieren. |
5 Das Kartell ist gedruckt bei Johann Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, 50. Teil, Berlin 1790, S.423ff. (Stichwort: »Kriegs-Gefangenen). Ibidem S.435ff. ein gleiches Kartell vom 28. Dezember 1778. 6 Vgl. dazu die kommentierte dreisprachige Textausgabe von Karl J. R. ARNDT, Der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1785 zwischen Seiner Majestät dem König von Preussen und den Vereinigten Staaten von Amerika, München 1977, bes. S. 18f. |
Die
Französische Revolution brachte für den Umgang mit Kriegsgefangenen
insofern einen tiefen Einschnitt, als der Konvent sich vom bisherigen
System der Auswechselungskartelle lossagte und am 25. Mai 1793 ein Dekret
verabschiedete, wonach der Gefangenenaustausch nur noch nach dem Prinzip
Mann gegen Mann möglich war7
Offensichtlich widersprach es seiner Auffassung von Gleichheit und Menschenwürde,
durch Tarif einen unterschiedlichen Wert der Soldaten festzulegen. Während
der Revolutionskriege und in der napoleonischen Zeit gab es keine allgemein
anerkannten Regeln für den Umgang mit Gefangenen mehr. Wenn zum Beispiel
bel der Kapitulation von Festungen grössere Zahlen von Gefangenen
gemacht wurden, brachte man sie in der Regel in eigene Festungen, um sie
erst nach dem Friedensschluss wieder freizulassen. Es war jedoch auch
möglich, sie nach der Kapitulation unter der Bedingung in die Heimat
zu entlassen, dass sie für die Dauer des Krieges oder eine bestimmte
Zeit keine Waffen mehr tragen durften. In England findet man in dieser
Zeit das erste Beispiel für ein eigens errichtetes Kriegsgefangenenlager.8
Sonst war es dort üblich, Gefangene in abgetakelten Schiffen der
Flotte unterzubringen.9
In gleicher Weise verfuhr Spanien mit den napoleonischen Truppen, die
sich in der Kapitulation von Baylen im Juli 1808 hatten ergeben müssen10.
Sie wurden zum grössten Teil in nicht mehr seetüchtigen Schiffen
auf der Reede vor Cadiz in Massen und unter erbärmlichsten Lebensbedingungen
zusammengepfercht, später zum Teil auf die Balearen, die kanarischen
Inseln oder nach England verbracht und erst nach Kriegsende 1814 freigelassen.
Die während des Feldzugs Napoleons nach Russland 1812/13 in russische
Hand geratenen Angehörigen der Grande Armée mussten unter
unsäglichen Strapazen bis weit in das Innere Russlands marschieren11.
Von Österreich gefangengenommene Franzosen wurden mit Vorliebe in
das hinterste Ungarn geschickt.12 |
7 [Georg Friedrich]
von MARTENS, Recueil des Principaux Traités [...], Band 6, Göttingen
1800, S.744ff. 8 Martin D. HOWE, Das Lager für napoleonische Kriegsgefangene in Norman Cross, Huntingdonshire 1796-1816, in: Festung, Garnison, Bevölkerung, Wesel 1981 (Schriftenreihe Festungsforschung, 2)S. 167ff. 9 Vgl. dazu vor allem Francis ABELL, Prisoners of War in Britain 1756 to 1815. A Record of their Lives, their Romance and their Sufferings, Oxford 1914. Die Gegenseite behandelt Michael LEWIS, Napoleon and his British Captives, London [1962]. 10 Théo GEISENDORF-DES GOUTTES, Les Prisonniers de Guerre au Temps du Ier Empire. [Teil L] L'Expédition et la Captivité d'Andalousie (1808-1810), Genève [1930]. Teil II Les Archipeles enchanteurs et farouches, Baléares et Canaries, Genève 1937. 11 Wolfgang SCHMIDT, Das Schicksal der bayerischen Kriegsgefangenen in Russland 1812 bis 1814, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41 (1987) S.9ff. 12 Ion GEORGESCU, Les Prisonniers français dans les camps du sud-est de l'Europe au temps des guerres de l'Autriche avec la France (1792-1815), in: Revue historique des Armées 6 (1979) Nr. 3, S. 71 ff. |
Während
der Feldzüge wurde in dieser Zeit weder auf die Beaufsichtigung,
noch auf die Versorgung der Gefangenen viel Mühe verwandt. Auf dem
Marsch wurden se häufig nur lässig bewacht, in Scheunen, Stallungen,
leerstehenden öffentlichen Gebäuden, auch Schulen oder Kirchen
untergebracht und ihre Verpflegung der Bevölkerung nach den für
Truppenmärsche geltenden Grundsätzen auferlegt. Sehr viele entkamen
auf dem Transport, und die entwichenen bettelnden oder stehlenden Kriegsgefangenen
wurden in manchen Gegenden Deutschlands zu einer wahren Landplage. In
den Gefangenendepots waren die Zustände entsetzlich. Die Gefangenen
fielen häufig verwundet und völlig entkräftet in feindliche
Hand. Ihre Kleidung wurde spätestens auf dem Marsch völlig verschlissen.
In den Lagern verbreiteten sich schnell epidemische Krankheiten wie Typhus
und Ruhr. Von Kriegsgefangenen transporten ging daher auch stets die Gefahr
aus, dass Epidemien über ganze Landstriche verbreitet wurden. In
den Lazaretten waren die hygienischen Verhältnisse erbärmlich
und die Möglichkeiten zu ärztlicher Hilfe gering. Einlieferung
ins Lazarett kam vielfach einem Todesurteil gleich. Die Rate der Sterblichkeit
auch unter den Ärzten, den Pflegern und dem Küchenpersonal war
sehr hoch. Besser ergingt den Offizieren, die sich in der Regel auf eigene
Kosten private Quartiere suche konnten und weitgehende Bewegungsfreiheit
hatten, sofern sie sich ehrenwörtlich verpflichteten, bis zum Kriegsende
nicht mehr ins Feld zu ziehen.
Während
des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 belief sich die Zahl
de französischen Gefangenen, die vor allem nach der Kapitulation
von Sedan, Metz un anderer Festungen nach Deutschland gebracht wurden,
bis Mitte Februar 1871 auf 11860 Offiziere und 371981 Mann13.
Anspruch auf Behandlung als Kriegsgefangene hatte jeder, der sich als
Angehöriger des regulären französischen Armée ausweisen
konnte und auf Schussweite durch ein militärisches Abzeichen erkennbar
war Franktireure mussten damit rechnen, durch ein Kriegsgericht zu mindestens
zehnjähriger Zwangsarbeit in Deutschland verurteilt zu werden14.
Im übrigen wurden nich alle in deutsche Hand gefallenen Angehörigen
der französischen Armee in Gefangenschaft gehatten. Unterschiedliche
Kapitulationsbedingungen machten es gelegentlich möglich, dass Offiziere
und Angehörige der Mobilgarde sofort in die Heimat entlassen wurden,
sofern sie ihr Ehrenwort gaben, sich bis zum Friedensschluss aller Beteiligung
an Kriegshandlungen zu enthalten. Die grosse Masse der Gefangener jedoch
wurde mit der Eisenbahn nach Deutschland transportiert und nach dem Massstab
der Bevölkerung auf die einzelnen Staaten verteilt. Sie wurden in
rund 200 Festungen oder Lagern untergebracht, die im Höchstfall 25
000 Mann Platz boten, in der Regel jedoch 10 000 Mann nicht überschritten.
Viele zählten auch nur wenige hundert Gefangene. Die Behandlung richtete
sich im Prinzip in ganz Deutschland nach einem « Regulativ über
die Behandlung, Verpflegung pp. der Kriegsgefangenen nach erfolgtem Eintreffen
in den Gefangenendepots », welches das preussische Kriegsministerium
am 30. Juli 1870 erlassen hatte15. |
13 Vgl. dazu die
»Nachweisung der Kriegsgefangenen-Depots in Deutschland vom 19. Februar
1871 und des Gesamt-Bestandes der Kriegsgefangenen überhauptk im WürttHStA
Stuttgart, Militärarchiv E 271c, Nr. 4792. Frankreich hatte Anfang
Februar 7958 deutsche Gefangene in Gewahrsam, darunter 138 Offiziere und
76 Kapitäne, die meist von gekaperten Handelsschiffen stammten. Die
deutschen Gefangenen waren in Frankreich auf 20 Depots verteilt, von denen
das auf der Ile d'Oléron mit rund 2000 Gefangenen das grösste
war. Vgl. dazu die Tabelle in den Archives de l'Armee (wie Anm. 4) LT 27.
Vgl. dazu auch unten 5.23 Amn. 39. Der wohl bekannteste deutsche Kriegsgefangene
in Frankreich war Theodor Fontane, der als Journalist Anfang Oktober in
Gefangenschaft geriet und froh sein musste, nicht als Spion erschossen zu
werden. Er wurde in das Lager auf der Ile d'Oléron gebracht, Ende
November freigelassen und konnte dann über die Schweiz nach Deutschland
zurückkehren. Vgl. dazu seine Erinnerungen, die unter dem Titel »Kriegsgefangen
1870H schon 1871 erstmals veröffentlicht wurden. 14 Vg1. dazu den von Bismarck und Roon gegengezeichneten Erlass vom 27. August 1870: BayerHStA München, Kriegsarchiv B 938, Fasz. II (Abschrift). In den Quellen gibt es allerdings auch Belege dafür, dass Franktireure in die normalen Kriegsgefangenenlager eingeliefert wurden. 15 WürttHStA (wie Anm 13) E 271c Nr.4764. Die Behandlung der deutschen Gefangenen in Frankreich rïchtete sich nach den Reglements vom 6. Mai und 8. Juli 1859, die im Zusammenhang mit dem damaligen franzôsisch-ôsterreichischen Krieg erlassen worden waren und auf die entsprechenden Dekrete der napoleonischen Zeit zurückgriffen. Druck im journal Militaire Officiel 1859, ter Semestre, 5.243ff. und 2e Semestre, S. 7 ff. |
Nach
der Ankunft wurden die Gefangenen zunächst ärztlich untersucht,
mit Heimatort und Truppenteil namentlich verzeichnet und in Kompanien
eingeteilt. Die Unterbringung des Unteroffiziere und einfachen Soldaten
erfolgte unter Beschränkung auf das unbedingt Notwendige «
im Allgemeinen nach den für die Kasernierung preussischer Truppen
im Kriege bestehenden Grundsätzen ». Kriegsgefangene Offiziere
bis zum Hauptmann abwärts konnten für sich und ihre Burschen
Privatquartiere mieten und bekamen monatlich 25 Taler ausbezahlt, Offiziere
niederen Ranges 12 Taler. Die übrigen Gefangenen erhielten Verpflegung
und Bekleidung in natura im Rahmen der Löhnung eines preussischen
Gemeinen. Voraussetzung für das Wohnen in Privatquartieren und für
das Tragen von Zivilkleidern war, dag sich die Offiziere durch Ehrenwort
verpflichteten, nicht zu fliehen, nur über den Ortskommandanten mit
der Heimat zu korrespondieren und keinerlei konspirative Aktionen zu betreiben. Unteroffiziere und Mannschaften waren so weit wie möglich von der Zivilbevölkerung getrennt zu halten. Sie sollten mit Arbeiten für den Festungsbau, auf Truppenübungsplätzen und in Militärwerkstätten beschäftigt werden und waren verpflichtet, täglich fünf Stunden als Ausgleich für ihre Unterhaltskosten zu arbeiten. Sie hatten auch die Möglichkeit, bei privaten Arbeitgebern freiwillig länger zu arbeiten und sich so ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen16. Wegen Verwundung oder Krankheit auf Dauer zum Militärdienst Untaugliche sollten sofort entlassen werden. |
16 Vgl. dazu die am 16. September 1870 vom preussischen Kriegsministerium aufgestellten »Grundsätze fur das Verfahren bei Beschäftigung von Kriegsgefangenen ausserhalb der Kriegsgefangenen-Depots durch Kreis- resp. Gemeindeverbände und Privatpersonen resp. Gesellschaften«: NiedersHSt Hannover, Hann 122a, Nr. 6650. |
Angesichts
der unerwartet hohen Zahl von Gefangenen war die Durchführung dieses
Regulativs nicht einfach17.
Die seiner Formulierung zugrundeliegende Annahme, dass die Gefangenen
in Festungen und leerstehenden Kasernen untergebracht werden könnten,
erwies sich schnell als Illusion. In zunehmendem Mass mussten daher auch
Magazingebäude, Stallungen, Reitbahnen oder andere in staatlichem
Besitz befindliche Gebäude wie unzureichend genutzte ehemalige Klosteranlagen
zur Unterbringung von Gefangenen hergerichtet werden. Sie wurden so weit
wie möglich gegen Zugluft abgedichtet, mit hölzernen Fussböden,
Ofen, Kochgelegenheiten, Brunnen und Aborten versehen und mit Lagerstätten
für die Gefangene ausgestattet, welche im Idealfall aus einem hölzernen
Bettgestell mit Strohsack Kopfpolster, zwei Leinentüchern und einer
Doppeldecke bestanden, im schlechtesten Fall aus blossem Stroh auf nacktem
Boden. Vorübergehend mussten Gefangene auch in Zelten schlafen. Schon
bald war man gezwungen, innerhalb der Festunge auf Exerzier- und Reitplätzen,
in den Festungsgräben oder auf dem Glacis zusätzlich Baracken
zu bauen, schliesslich auch ganze Barackenlager neu zu errichten. Nach einer für die Festung Ingolstadt, dem grössten bayerischen Kriegsgefangenen-Depot, überlieferten Skizze war eine Kriegsgefangenen-Baracke 60 Fuss lang, 2 Fuss breit und hatte eine Giebelhöhe von 15 Fuss (d. h. ungefähr 18 x 6 x 4,50 m). Das Dach reichte bis fast auf die Erde, denn die Höhe der Seitenwände betrug nur 3 Fuss. In den Giebelwänden befanden sich drei kleine Fenster und die Tür. Dach un Wände bestanden aus einer doppelten Lage Bretter mit Dachpappe als Abdichtung In der Mitte der Baracke stand ein eiserner Ofen. An den Längswänden befande: sich die Bettgestelle, und in der Mitte verblieb ein etwa zwei Meter breiter Gang18. Die Baracke sollte 50 Mann aufnehmen, d. h. daß die. Lagerstätten höchstens 70 cm breit waren. Im allgemeinen galt ein "Kasernierungsraum" von 2,25 m2 pro Mann als hinreichend. |
17 Im folgenden
werden eine Fülle von Details aus den Akten vor allem des BayerHStA
(wie oben Anm. 14) Nr. 938-940 summarisch zusammengefasst. Auf Einzelbelege
muss hier verzichtet werden. 18 BayerHStA (wie Anm.14) B 939, Fasz. IV. |
Das
seit November 1870 für die Unterbringung von Gefangenen eigens errichtete
Lager Lechfeld bei Augsburg hatte Anfang Februar 65 in zwei Reihen ausgerichtett
Baracken, die mit jeweils 98 Mann belegt waren19.
Für je vier Baracken gab es eine Küchenbaracke und in gebührendem
Abstand eine Latrine. Dazu kamen noch einige Baracken für Offiziere
unterer Dienstgrade, für leicht Erkrankte und für die Wachmannschaften.
In der benachbarten Kaserne waren das Feldlazarett mit zwei Krankensälen
und eine Feldbäckerei untergebracht. Für die Fleischversorgung
wurde eine eigene Feldschlachterei eingerichtet.. Das Lager war nicht
durch einen Zaun umgeben, sondern wurde nur durch eine lockere Kette von
Posten im Abstand von 160 Schritt bewacht. Zur körperlichen Bewegung
stand den Gefangenen ein großes freies Gelände zur Verfügung,
das direkt an einen Platz für Besucher des Lagers grenzte. Dort hatten
nicht zuletzt die Marketender ihre Stände, welche die Gefangenen
mit allen notwendigen Kleinigkeiten, vor allem auch Alkohol, versorgten.
Das Geld dafür erhielten die Gefangenen zunächst von der bayerischen
Regierung, die ihnen neben der Naturalverpflegung einen Sold in gleicher
Höhe wie den bayerischen Soldaten zukommen ließ. Später
erhielten sie einen noch darüber liegenden « Gefangenensold
» aus Frankreich, dessen Auszahlung die britische Regierung über
ihre Gesandtschaft in München und die bayerische Vereinsbank vermittelte20. |
19 Eine Skizze
des Lagers Lechfeld ist ebenfalls im BayerHStA (wie Anm. 14) B 940, Fasz.
VII erhalten. Die (nicht mehr ganz vollständigen) Akten der Lagerverwaltung
mit einer Fülle von Details über die Ausstattung des Lagers, die
Verpflegung, Bekleidung, ärztliche Versorgung der Gefangenen und anderes
mehr befinden sich im gleichen Bestand unter Nr. B 1454. Auch für andere
Gefangenenlager in Bayern sind ähnliche Akten erhalten. Sehr gut ist auch die Überlieferung für das Lager Übigau bei Dresden. Vgl. dazu die Akten im SächsHStA Dresden, Sächs. KA/P Nr. 3055 und 3056. Das Lager wurde ab September 1870 errichtet und lag unmittelbar am Elbufer. Schon Ende Januar war daher der größte Teil der Strohsäcke »durch Witterungsverhältnisse in dumpfigen, fauligen Zustand versetzt worden«, (Schreiben des Lagerkommandanten vom 27. Januar 1871, ibidem Nr. 3056). Ende Februar mußte das Lager wegen Überschwemmungsgefahr vorübergehend sogar geräumt werden. 20 Im Archiv des französischen Außenministeriums, Correspondance Diplomatique Angleterre, Nr. 754-756, sind einige Schriftstücke über die reibungslose Abwicklung des Zahlungsverkehrs überliefert. Informationen über die Lage der französischen Gefangenen enthalten sie nicht, und England hat offensichtlich auch nicht die Rolle einer "Schutzmacht" für die Gefangenen übernommen. |
Aus
den bayerischen Akten gewinnt man den Eindruck, daß die zuständigen
Stehen ehrlich bemüht waren, das Los der Gefangenen so erträglich
wie nur möglich zu gestalten. Gleichwohl gab es Unzulänglichkeiten
und Mißstände. Bei einer Inspektion aller Lager durch bayerische
Militärärzte Ende Januar/Anfang Februar wurde folgendes am häufigsten
bemängelt21:
1. Überbelegung der Lager, so daß nachts selbst auf den Gängen Strohsäcke liegen mußten. 2. Unzureichende Heizung (eine Temperatur von 15 Grad Celsius galt aber als hinreichend). 3. Mangeln, Reinlichkeit der Aborte, deren regelmäßige gründliche Säuberung und Desinfizierung immer wieder angemahnt wurde. 4. Verschmutzung der Gänge besonders L Regen, Schnee und Tauwetter. 5. Ungenügende Bekleidung. Vor allem an Schuh und Mänteln fehlte es vielfach, obwohl man sich bemühte, aus erbeuteten französischen Magazinen oder bayerischen Reservebeständen das Nötigste zur Verfügung zu stellen. 6. Die Schlafdecken waren häufig zu dünn oder verschlissen, und nicht immer waren Holzpritschen oder zumindest Bretter als Unterlage für die Strohsäcke vorhanden. Von Problemen mit Ungeziefer wie Läusen oder Flöhen ist erstaunlicherweise nicht die Rede. Wahrscheinlich galt deren Auftreten als so selbstverständlich, daß es überhaupt nicht erwähnt wurde. |
21 BayerHStA (wie
Anm.14) B 939, Fasz. Vl. 22 Die sogenannte »Rote Moschee« im Schloßpark von Schwetzingen, die 1785 als Mittelpunkt eines »türkisches Gartens« errichtet worden war, wurde in dieser Zeit zum mohammedanischen Gebetsraum, da sie einem Lazarett angegliedert war, in dem algerische »Turkos« gepflegt wurden. Vgl. dazu Peter Schütt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 95 vom 24. April 1993, Ereignisse und Gestalten. |
Über
die Verpflegung gab es angeblich keine Klagen, wenn man einmal davon absieht,
daß sich die Franzosen gelegentlich über unzureichende Versorgung
an Weißbrot und Rotwein beschwerten. In einigen Lagern galt ein
generelles Alkohol verbot. Für andere Lager wird von übermäßigem
Biergenuß, von Trunk un Glücksspiel gesprochen. Gefangene,
die sich gut führten, bekamen auch die Erlaubnis, Wirtshäuser
in den Städten zu besuchen. In allen Lagern wurde darauf geachtet
daß sich die Gefangenen mindestens anderthalb Stunden am Tag im
Freien bewegte: und daß in der Zwischenzeit die Unterkünfte
gut gelüftet wurden. Auch Gelegenheit zum Besuch des Gottesdienstes
wurde nach Möglichkeit geboten.22
Daß
sich in den Lagern Krankheiten unterschiedlichster Art ausbreiteten, war
unvermeidlich. Bei der Ankunft in den Lagern war der gesundheitliche Zustand
de Gefangenen häufig sehr schlecht. In den belagerten Festungen waren
Hunger und epidemische Krankheiten an der Tagesordnung gewesen. Von den
Strapazen de. Kämpfe und des Transportes physisch und psychisch erschöpft,
häufig überdies verwundet oder "fast ohne Schuhe, mit erfrorenen
Zehen, zerrissenen Hosen schlechten Mänteln oder Röcken versehen,
die von Ungeziefer wimmelten":23
so kamen die Gefangenen in den Lagern an, und eine gewisse Zahl starb
gleich in der ersten Tagen an den Folgen von Verwundung oder Erschöpfung.
Der Krankenstand lag in den ersten Wochen gelegentlich bei 14 Prozent,
ging im Laufe der Zeit aber doch auf fünf Prozent oder darunter zurück.
Die am häufigsten genannten Krankheiten waren Typhus, Blattern, Ruhr,
Diarrhoe, Lungenentzündung und Bronchitis. Trotzdem gelang es den
Ärzten, die Rate der Sterblichkeit im Vergleich zu früheren
Kriegen in Grenzen zu halten. Von 39 339 nach Bayern gelangten Gefangenen
starben 1 508 bis Ende Juni 1871, d. h. etwa 3,8 Prozent.24
In den Lagern der Staaten des Norddeutschen Bundes starben bis zum 19.
Februar 1871 von 285 124 Gefangenen insgesamt 7230 (2,53 Prozent).25 Soweit Quellen anderer Provenienz zugänglich sind, bestätigen sie weitgehend die Befunde, die sich aus den deutschen Akten ergeben. Die Urteile ausländischer Beobachter über die Behandlung der Gefangenen in Deutschland sind im ganze überraschend positiv. Ein sehr engagiert für die Kriegsgefangenenbetreuung im Württemberg tätiger Franzose kommt in seinem Bericht darüber abschließend zu der Feststellung: « Si tous nos prisonniers ont été traités comme ceux internés en Wurtemberg, ils n'ont pas le droit de se plaindre ».26 Sehr anerkennend hat sich offenbar auch der französische Militärgeistliche Graf Damas über die Behandlung der Gefangenen geäußert, nachdem er um die Jahreswende 13 Lager in Norddeutschland besucht hatte. Angeblich waren ihm nirgendwo "begründete Klagen un Beschwerden der französischen Soldaten über ihre Unterbringung, Beköstigung oder Behandlung zu Ohren gekommen".27 Ob das glaubwürdig ist, muß angesicht der vielfach bezeugten Klagen der Franzosen über das ungewohnte Essen allerdings bezweifelt werden.28 |
23 BayerHStA ibidem, Bericht über die Inspektion des Lagers Lechfeld am 3. Febr. 1871. 24 Ibidem B 940,
Fasz. VIII (abschließende Aufstellung vom 24. März 1872). 25
VgL dazu die in Anm. 13 zitierte »Nachweisung ...n. 27 Nach einem Bericht des Militär-Wochenblatts 56 (1871) Nr. 101, S 779ff. Der Autor beruft sich au einen veröffentlichten, sehr positiven Bericht des Grafen Damas an seinen »geistlichen Oberhirten" vom 5. Januar 1871 und berichtet anschließend detailliert über die Lebensumstände der rund 2500( Gefangenen irn größten Lager Deutschlands (vermutlich Magdeburg). 28 Beobachter von internationalen Organisationen waren sich im ganzen darin einig, daß die Verpflegung der französischen Gefangenen insofern gut war, als sie das gleiche Essen erhielten wie deutsche Soldaten, daß dieses Essen für sie jedoch ungewohnt war und ihnen gelegentlich schlecht bekam, vor allem wegen des Fehlens von Weißbrot und Rotwein. Vgl. dazu den Bericht des "Oeuvre des prisonniers français« (wie unten 5.21 Anm. 31) 5.14 und vor allem ein Schreiben des Leiters des Grünen Kreuzes Basel (vgl. unten S. 23) an den Präsidenten des Internationalen Komites vom Roten Kreuz in Genf vom 5. Dezember 1870. Darin heißt es, man müsse mit Nachdruck allen Gerüchten entgegentreten, daß die französischen Gefangenen in Deutschland Hunger litten. Das Hauptproblem wäre ihre Versorgung mit warmer Kleidung, Unterwäsche und Schuhen: Archiv des Comité International de la Croix Rouge, Genf (künftig: Archiv CICR) Karton 20, 2. Für die Erlaubnis zur Benutzung seines Archivs bin ich dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zu großem Dank verpflichtet. Für die entgegenkommende Betreuung in Genf danke ich insbesondere Frau Perret, Frau Bouladier und Herrn Morger. |
Ein
Vicomte d'Anthenaise, der im Dezember 1870 als Delegierter des »Comité
Central de Saint-Etienne« nach Berlin gereist war, faßte auf
Grund persönliche Erfahrungen und nach Gesprächen mit einer
Reihe von für die Kriegsgefangenen Betreuung tätiger Persönlichkeiten29
seine Eindrücke wie folgt zusammen:30
« L'Allemagne n'était pas préparée à recevoir les centaines de milliers de soldats dont les capitulations de Sedan et de Metz lui ont imposé la charge. Nos malheureux compatriotes, à demi morts de fatigue, ont dû, à leur arrivée, souffrir en même temps du froid et de la faim; couchant sous la tente et ne recevant qu'une nourriture insuffisante, il en est mort un grand nombre. Cet état de choses a heureusement cessé aujourd'hui pour la plus grande partie d'entre eux [...]. La masse des prisonniers est aujourd'hui logée dans des baraques en briques et en bois, dont quelques-unes, dans le Nord, sont chauffées. La nourriture qu'on leur donne, est suffisante. Au point de vue matériel, il ne leur manque que des vêtements chauds [...]. Au point de vue moral, les besoins sont plus grands. Renfermés dans leurs baraques souvent vingt-quatre heures de suite, n'en sortant guère, à cause de la rigueur du climat, qu'une fois tous les jours ou tous les deux jours pour faire une corvée de quatre ou cinq heures, nos soldats sont livrés à une désoeuvrement qui a les plus graves inconvénients. Ils réclament des livres à cor et à cri. Ce besoin a été si bien senti des Prussiens eux-mêmes, que les dépôts de livres français à leur usage sont complètement épuisés en Allemagne et en Belgique ». Daß es noch immer Mißstände gab, belegte der Vicomte am Beispiel eines Gefangenentransports, der angeblich acht Tage und neun Nächte in offenen Waggons unterwegs war, bis er in Dresden eintraf. Er bemängelte außerdem, daß sich die preußischen Behörden bisher weigerten, französischen Priestern, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben wollten, die Seelsorge in den Gefangenenlagern zu übertragen. Abschließend betonte der Vicomte, daß die Bereitschaft der deutschen Stellen zur Unterstützung der Gefangenen-Fürsorge von der Durchführung gleicher Grundsätze in Frankreich abhänge. |
29 Es waren neben dem schon erwähnten Grafen Damas und den wichtigsten Mitgliedern des Preußischen Comitees zur Unterstützung der Kriegsgefangenen (s. dazu unten 5.24) vor allem der für das Brüsseler Hilfskomitee (s. unten S. 24) nach Berlin gereiste Dr. Mercier und ein Abbé Brisset von der Gemeinde Ste Clothilde in Paris, die bereits ohne nennenswerte Schwierigkeiten nun certain nombre de dépots« besucht hatten. Vgl. dazu d'Anthenaises »Rapport au comité central de Saint-Etienne sur les démarches faites par ses délégués, en Allemagne, pour porter des secours aux prisonniers français«: Archives de l'Armée (wie Anm.4) LT 27. Der vom 30. Dezember datierte Bericht wurde erst nach der Rückkehr des Vicomte nach Frankreich geschrieben, doch war er nach dem Begleitbrief auch für die Augen seiner Berliner Gesprächspartner bestimmt. Nach dem Bericht des preußischen Unterstützungskommitees (s. unten S.24) hat sich d'Anthenaise in den folgenden Monaten in Frankreich mit sehr großem Engagement und viel Erfolg für die Verbesserung der Lage der deutschen Gefangenen eingesetzt. Vgl. dazu den Bericht des preußischen Unterstützungskomitees (unten 5.24 Anm. 43; 5.10. 30 Quellennachweis in Anm 29. |
Sehr
positiv waren im ganzen auch die Eindrücke der Delegierten des französischen
Hilfswerks für Gefangene, das sich Anfang Dezember unter erzbischöflichem
Protektorat in Bordeaux gebildet hatte. Sie durften im Januar (wie es
scheint, ohne jede Schwierigkeit) mehrere Lager in Westdeutschland besuchen
und berichteten beispielsweise über den Kommandanten des 20000 Gefangene
zählenden Lagers Koblenz und seine Untergebenen, sie seien «
les amis plutôt que les gardiens de nos malheureux compatriotes
».31 Im ganzen vermitteln die Quellen somit den Eindruck, daß die Gefangenen, soweit sie gesund blieben, am meisten unter Kälte, Nässe, Heimweh und Langeweile gelitten haben. Als besonders unangenehm galt die Unterbringung in kalten, feuchten und schlecht beleuchteten Festungskasematten, in denen sich im Winter sogar Eis an den Innenwänden bilden konnte.32 Die in sehr viel besseren äußeren Umständen lebenden Offiziere wurden offenbar vor allem durch das Gefühl von Schmach und Schande wegen der katastrophalen Niederlage des französischen Heeres belastet. Der in Ingolstadt internierte Hauptmann Quesnay de Beaurepaire empfand seine Gefangenschaft in diesem Sinne als permanente qualvolle Demütigung.32 |
31 Oeuvre des prisonniers français en Allemagne. Comité central pour la Gironde et le Sud-Ouest de la France à Bordeaux. Rapport au comité et aux bienfaiteurs de l'Oeuvre présenté par M. BLANCHY, Bordeaux 1871, 5.19. Auch über den Kommandanten von Erfurt und seine Gattin sprach man »avec éloges« über ihre »bienveillance attentive« für die Gefangenen. Da dieser Rechenschaftsbericht nach Kriegsende in Frankreich erschien, ist auszuschließen, daß er aus Sorge vor Repressalien an den Gefangenen bewußt geschönt worden sei. Die Delegierten verschwiegen nicht, daß sie in Köln sehr unfreundlich empfangen worden waren, und auch die notorisch schlechten Verhältnisse in Ulm (vgl. unten Anm. 32) werden erwähnt. Über das preußische Hilfskomitee (s. unten S. 24 Anm. 43) heißt es, »[il] avait été, à ces tristes époques, animé pour nos prisonniers, du zèle le plus secourable«. Es gab, so heißt es weiter »des hommes généreux parmi nos ennemis"(ebenda S. 14). 32 Bericht des
Kommandanten der Festung Königstein bei Dresden vom 17. Januar 1871:
SächsHStA (wie Anm. 19) Nr. 3057. Als besonders schlecht wurden in
dieser Hinsicht die Verhältnisse in Ulm geschildert. S. dazu den
Brief des französichen Feldgeistlichen Joseph-Roland an das Rote
Kreuz Genf aus Ulm, in dem es unter anderem heißt: »La grande,
la vraie mission du moment, qui sollicite l'atttention de l'humanité,
est concentrée dans la forteresse, où des milliers de prisonniers
français ramenés dans des casernais humides sont privés
des vêtements les plus indespensables, de là les ravages
du typhus et de la dysenterie« (24. Oktober 1870, Archiv des CICR,
Karton 20, 2. Ibidem ein Brief gleichen Inhalts vom 29. Oktober 1870). |
Kriegsgefangene
mit sinnvoller Arbeit zu beschäftigen, wie es das preußische
Regulativ vorsah, war offenbar nur in Ausnahmefällen möglich.
Nach einer für Preußen vorliegenden, 56 Lager zählenden
Tabelle waren Ende 1870 in Magdeburg von 23418 Gefangenen täglich
nur 3000 bei Flußbauarbeiten beschäftigt.34
Auch in Memel wurden Gefangene beim Kanalbau eingesetzt. Außerdem
arbeiteten nur in vier kleineren Lagern des Emslandes Gefangene bei der
Melioration von Moor- und Heideflächen. Bei privaten Arbeitgebern
waren von den insgesamt 232 637 Gefangenen nur 6867 beschäftigt,
d. h. 2,9 Prozent. Aus Bayern ist überliefert, daß in Ingolstadt
und Neu-Ulm wenigstens ein Teil der Gefangenen für Baumaßnahmen
im Festungsbereich eingesetzt werden konnte. Generell wurde der Arbeitseinsatz
von Gefangenen durch die winterliche Jahreszeit behindert. Außerdem
gab es in Deutschland damals keinen Arbeitskräftemangel, die Arbeitgeber
klagten eher über fehlende Beschäftigung für ihre eigenen
Leute, und die Lagerkommandanten hatten darauf zu achten, daß durch
Kriegsgefangenenarbeit dem örtlichen Gewerbe keine Konkurrenz erwuchs
und keine Arbeiter beschäftigungslos wurden.35
Gelegentlich wurden ausgesprochene Spezialisten gesucht, doch war hier
angesichts des sich abzeichnenden schnellen Endes des Krieges die Frage,
wie lange man wohl mit ihnen rechnen könne. Bei der Vermittlung von
Arbeit und in anderer Hinsicht wurden Gefangene aus dem Elsaß und
Deutsch-Lothringen in Württemberg seit Ende Oktober, im übrigen
Deutschland spätestens seit einem Erlaß des preußischen
Innenministeriums vom 12. Januar 1871 bevorzugt.36 |
34 NiedersHStA (wie Anm 16) Nr. 6650 (datiert: BerLn, den 31. Dezember 1870). 35 Wegen seiner Bemühungen um Beschäftigung der Kriegsgefangenen wurde der Kommandant der Festung Wesel von Delegierten des »Oeuvre des prisonniers français en Allemagne« (s. oben 5.21) besonders gelobt. Gefangene hatten hier die Möglichkeit, auf Bauernhöfen, in Fabriken und Bergwerken zu arbeiten und durften sich zu diesem Zweck frei bewegen. Andere arbeiteten im Lager als Tischler oder Korbflechter. Ihre Produkte wurden zugunsten der Gefangenen verkauft oder bei Wohltätigkeitsveranstaltungen verlost. »Ainsi, grâce à une inspiration élevée, le travail venait à Wesel remonter le moral de ces hommes condamnés à la dure condition des captives«: Oeuvre (wie Anm. 31) 36 Erlaß des preußischen Innenministeriums vom 12. Januar 1871. Danach sollten Elsässer und DeutschLothringer möglichst mit ländlichen Arbeiten an solchen Orten beschäftigt werden, »wo für Unterbringung und Verpflegung gut gesorgt ist und ein höherer Lohn gewährt werden kann«. NiedersHStA (wie Anm. 34) ibidem, Ausfertigung. |
Angesichts
der begrenzten Einsatzmöglichkeiten für Gefangene außerhalb
der Lager machte man sich im preußischen Kriegsministerium schon
Ende 1870 Gedanken darüber, wie man die Gefangenen im Interesse ihrer
Gesundheit und der Disziplin innerhalb der Lager beschäftigen könne,
ohne “daß die Privatindustrie durch die billigere Gefangenenarbeit
geschädigt werde“, und trotzdem ein geringer Verdienst für
die Gefangenen dabei herauskäme.37
Als mögliche Tätigkeiten wurden schließlich das Anfertigen
von Fischernetzen, Strohmatten und Decken (aus Tuchabfällen), Holzschnitzereien,
Kartonnagen und Kuverts (also typische Arbeiten auch von Zivilgefangenen)
in Aussicht genommen. Für den Gebrauch innerhalb der Lager sollten
außerdem Strohmatten, Bänke, Tische, Holzschuhe, Pantoffeln
und dergleichen angefertigt werden. Für den Ankauf von Materialien
und die vorübergehende Bezahlung von Vorarbeitern waren dem Ministerium
von privater Seite Mittel zur Verfügung gestellt worden. Ob der entsprechende
Erlaß des Kriegsministeriums zu nennenswerten Ergebnissen geführt
hat, war bislang nicht zu ermitteln. Während im Ersten Weltkrieg
der zwangsweise Einsatz sämtlicher Gefangener eine notwendige Voraussetzung
für die Aufrechterhaltung der deutschen Produktion in Landwirtschaft
und Gewerbe war, hat es im Krieg von 1870/71 Gefangenenarbeit in nennenswertem
Umfang nicht gegeben.
Eine
Vielzahl lokaler Vereine und überörtlicher Organisationen bemühte
sich, die deprimierende Lage der Gefangenen zu erleichtern. Schon am 19.
September berichtete der Kommandant von Ingolstadt, daß die Gefangenen
"von allen Seiten nicht unbedeutende Geldmittel" erhielten,
und er sprach in diesem Zusammenhang von Bankiers und Hilfsvereinen in
Genf, Basel, Zürich, Stuttgart, München, Frankfurt und Köln.38
Am 17. November wandte sich unter dem Zeichen des
Roten Kreuzes die « Agence internationale de secours aux militaires
blessés » aus Basel an alle deutschen Regierungen mit der
Bitte, nicht nur wie schon bisher Briefe und Geldsendungen, sondern auch
"warme Kleidungsstücke jeder Art, Rotwein usw." den verwundeten
Gefangenen übermitteln zu dürfen.39
Von Mitgliedern des Baseler Roten Kreuzes wurde dann nach der Übergabe
von Metz Ende November das „Internationale Hilfs-Comité für
Kriegsgefangene in Basel“ gegründet, das ein grünes Kreuz
als Emblem führte.40
Nach anfänglichem Zögern erging an dieFestungskommandanten die
Weisung, die Bemühungen dieser Vereine zu unterstützen, namentlich
auch die im Dezember 1870 in Brüssel gegründete, unter anderem
vom Hause Rothschild finanzierte « Société internationale
de secours pour les prisonniers de guerre“. Letztere wurde nach
eigenen Angaben für Gefangene in 98 deutschen Lagern tätig,
vor allem durch Vermittlung von Kontakten zu Angehörigen und durch
Zusendung von Kleidung, Tabakwaren und Büchern.41
Das Rote Kreuz bemühte sich nicht nur intensiv und erfolgreich um
die Pflege der Verwundeten, sondern es vermittelte auch noch während
des Krieges die Repatrüerung zahlreicher invalider Gefangener. Diese
überquerten in kleineren Transporten bei Basel die Grenze und wurden
über Genf nach Frankreich gebracht42.
Ansprechpartner für diese internationalen Organisationen war in Deutschland
vor allem das "Preußische Comité zur Unterstützung
der Kriegsgefangenen". Es stand unter dem Vorsitz des Fürsten
Victor von Ratibor, sollte sich primär der Fürsorge für
deutsche Gefangene in Frankreich widmen, machte in zunehmendem Maße
aber auch die Übermittlung von Hilfssendungen an Gefangene in Deutschland
zu seiner Aufgabe43.
Bis Januar 1871 gelang es ihm, Namenslisten aller in Frankreich befindlichen
deutschen Gefangenen zu veröffentlichen44.
In seinem Abschlußbericht äußert es sich uneingeschränkt
positiv über die Kooperationsbereitschaft französischer Stellen
und internationaler Hilfsorganisationen. |
37 Schreiben des preußischen Kriegsministeriums vom 1. Januar 1871, ibidem (Abschrift). 38 BayerHStA (wie Anm. 14) B 938, Fasz. I(19. September 1870). 39 Ibidem Fasz. II, auch in WürttHStA (wie Anm. 13) M 271c. 40 Das Motiv für
die Gründung einer eigenen Hilfsorganisation für Kriegsgefangene
war die Sorge, daß das Rote Kreuz bei seinen Hilfsmaßnahmen
für Verwundete Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn es seine
Tätigkeit über den in der Genfer Konvention von 1864 festgelegen
Rahmen hinaus ausdehnen würde. Vgl. dazu die Korrespondenz im Archiv
des CICR, Karton 20, 2 und im Faszikel »Internationaler Hilfsverein,
Agentur Basel, Schweiz. Comité 1870/71« Zur Tätigkeit
des Grünen Kreuzes während des Krieges s. dessen in französischer
und deutscher Sprache gedruckte >,Berichte des Internationalen Hilfscomité
für Kriegsgefangene in Basel 1870-1871, Basel 1871« (mit einer
sehr anschaulichen Skizze des Lagers Karthaus bei Koblenz im Anhang). |
Nachdem
zentrale Nachweisbüros für die Übermittlung von Gefangenenlisten
ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, scheint auch der Postverkehr zwischen
den Gefangenen und der Heimat leidlich funktioniert zu haben. Natürlich
mußten alle ein- und ausgehenden Sendungen überprüft werden,
und dies führte zu einer völligen Überlastung der Poststellen.
So klagte der Kommandant von Ingolstadt im Januar 1871 darüber, daß
bei rund 8000 Gefangenen täglich über 600 Briefe eingingen,
dazu hunderte von Postanweisungen und eine beträchtliche Zahl von
Paketen mit Kleidungsstücken aller Art (bis dahin schon mehrere Tausend).
Die Poststelle mußte daher räumlich und personell erweitert
werden. Obwohl die Postsendungen den Weg über England nehmen mußten,
betrug die Laufzeit eines Briefes von Erfurt nach Tours schon im November
1870 nur etwa 10 Tage.
Das
Verhältnis zwischen den Gefangenen und der Bevölkerung scheint
im wesentlichen spannungsfrei gewesen zu sein. Der Kommandant des Lagers
Lechfeld spricht sogar einmal von einer ausgesprochen freundlichen Haltung
der Bevölkerung gegen über den Gefangenen, was Fluchtversuche
sehr begünstige45.
Anfangs wurden die Gefangenen, vor allem die aus Nordafrika stammenden
"Turkos" in ihrer exotischen Tracht mit neugierigem Interesse
bestaunt, und es wurden auch Besuchergruppen, wie zum Beispiel das Münchner
diplomatische Korps mit seinen Damen, durch das Depot Ingolstadt geführt.
Als sich die Gefangenen aber beklagten, sie kämen sich vor wie in
einer Menagerie, wurden diese Führungen eingestellt. Manchmal beschwerten
sich Anlieger über angeblich von den Lagern ausgehende Geruchsbelästigungen
oder Ansteckungsgefahren, doch wurden solche Beschwerden stets als unberechtigt
zurückgewiesen. Von Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung
und Gefangenen wird in den mir bisher bekannt gewordenen Akten nur ganz
selten gesprochen. Gelegentlich mußte eingegriffen werden, wenn
beispielsweise französische Offiziere noch nach der Polizeistunde
lärmend nach Wein verlangten oder beim Bordellbesuch mit Angehörigen
der bayerischen Armee aneinandergerieten. Vereinzelt kam es auch zu Zusammenstößen
mit der Wachmannschaft, die z.B auf der Festung Marienberg bei Würzburg
einmal mit Steinen beworfen wurde und schließlich, ohne ernsthafte
Folgen, von der Schußwaffe Gebrauch machen mußte. Auch in
Ingolstadt kam es einmal zu einer Rauferei zwischen Gefangenen und der
Wache, welche in eine Messerstecherei ausartete. Der hauptbeteiligte Fremdenlegionär
wurde wegen Aufruhrs zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Archiv von
Vincennes liegt allerdings auch noch der Totenschein für einen am
24. September 1870 in Ingolstadt standrechtlich erschossenen französischen
Soldaten.46 Die
meisten der von den Militärgerichten ausgesprochenen Strafen betrafen
jedoch kleinere Vergehen wie Diebstahl und dergleichen. Im ganzen drängt
sich im übrigen der Eindruck auf, daß Disziplinarvergehen und
Fluchtversuche gegen Ende der Gefangenschaft, vor allem nach Abschluß
des Vorfriedens von Versailles, häufiger waren als während des
Krieges. Die relative Bewegungsfreiheit der Gefangenen und die häufig wenig effektive Umgrenzung und Bewachung der Lager boten günstige Voraussetzungen für Fluchtversuche. Es war für Gefangene nicht allzu schwer, sich Zivilkleider zu verschaffen, Geld stand ihnen in hinreichendem Maß zur Verfügung, zumindest für die Elsässer gab es keine Sprachprobleme, die Grenze nach Österreich oder Böhmen war häufig nicht weit, und Fluchtversuche wurden höchstens disziplinarisch oder durch Entzug von Vergünstigungen bestraft. In Österreich soll es sogar Vereine gegeben haben, welche die Flucht von Gefangenen durch Vermittlung von Landkarten, Geld und Waffen systematisch unterstützten47. Trotzdem ist die Flucht von Gefangenen offensichtlich nicht zum größeren Problem geworden. Aus dem Lager Lechfeld, zum Beispiel, das nur durch eine lockere Postenkette umgeben und nachts schlecht beleuchtet war, überdies wegen häufig auftretenden Nebels in den langen Winternächten ideale Voraussetzungen für die Flucht bot, flohen bis Mitte April nur 17 Gefangene bei einer Gesamtbelegung von durchschnittlich 5000 Mann48. Im Verlauf des April flohen 42 Mann, von denen aber 40 wieder festgenommen wurden. Vielleicht darf man diese geringe Neigung zur Flucht als Indiz dafür nehmen, daß die Verhältnisse in den Lagern als halbwegs erträglich empfunden wurden. Es kam allerdings auch vor, daß Gefangene bei Fluchtversuchen erschossen wurden |
45 BayerHStA
(wie Anm. 14) B 940, Fasz. VII (11. Mai 1871). 46 Archives de l'Armée (wie Anm.4) LT 23. 47 S. d'Anthenaise im Begleitbrief zu seinem Bericht vom 30. Dezember 1870 (vgl. Anm.29). 48 BayerHStA (wie Anzn.14) B 940, Fasz. VII (Bericht vom 11, Mai 1871). |
Von
den 10718 Offizieren, die in den Staaten des Norddeutschen Bundes festgehalten
wurden, flohen insgesamt 162, davon 158 unter Bruch des Ehrenwortes, keinen
Fluchtversuch zu machen. 12 der Geflohenen wurden wieder ergriffen. Sie
mußten damit rechnen, für den Rest ihrer Gefangenschaft als
"Militär-Sträflinge" behandelt zu werden.49 Die Lebensumstände der gefangenen Offiziere waren so angenehm, wie sie es unter den gegebenen Verhältnissen nur sein konnten. Sie wohnten meistens mit ihren Burschen in Hotels oder Privatquartieren und pflegten Umgang mit den Offizieren der Garnison und den Honoratioren der städtischen Gesellschaft. Offiziere konnten auch mit Aussicht auf Erfolg ihre Verlegung an bestimmte Orte beantragen, sei es, um bei Verwandten oder Freunden wohnen zu können, oder auch, so ein Beispiel, um in München künstlerische Studien zu betreiben. Bayern scheint allerdings bei der Behandlung der gefangenen Offiziere besonders entgegenkommend gewesen zu sein. Am 18. August 1870 teilte das bayerische Kriegsministerium der württembergischen Regierung mit, daß Bayern alle Gefangenen so großzügig wie möglich behandeln wolle, daß namentlich die Offiziere dic Erlaubnis erhalten sollten, »sich temporär hierher zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten Münchens begeben zu dürfen«, und daß gefangene Offiziere an einem Diner teilgenommen hätten, welches der Kriegsminister gegeben habe. Die württembergische Regierung hielt diese Großzügigkeit allerdings für unpassend, da »die Kriegsgefangenschaft in der Tat nicht die Zeit des Amüsements ist50. |
49 Erlaß
des preußischen Kriegsministeriums vom 18. Januar 1871, WürttHStA
(wie Antn.12) E 271c Nr. 4837 (Abschrift). 50 WürttHStA (wie Anm. 13) E 271c, Nr. 4764 (Konzept für eine Antwort auf eine bayerische Anfrage vom 18. August 1870). Nach den Bestimmungen der Kapitulation von Sedan durften die gefangenen Offiziere ihren Aufenthaltsort in Deutschland frei wählen. Die Kapitulationsurkunde von Metz gestattete es Offizieren, den Degen weiter zu tragen (nach einem Vorgang ibidem Nr.4837). |
Die
Unterbringung der Offiziere in privaten Quartieren machte zumindest anfänglich
keine Schwierigkeiten. Mehrere Orte sowohl in Nord- als auch in Süddeutschland
bewarben sich sogar unter Hinweis auf billige Mieten und leer stehende
Wohnungen oder Kureinrichtungen um Zuweisung möglichst vieler gefangener
Offiziere. Gelegentlich erhoffte man sich von ihnen auch eine Belebung
der städtischen Wirtschaft. Da man sich aber bemühte, die Offiziere
um einer gewissen Aufsicht willen in nicht zu nahe an der Grenze liegenden
Garnisonsstädten zu konzentrieren, kam es dort mit dem Fortgang des
Krieges doch zu gewissen Schwierigkeiten, zumal die Behörden versuchten,
die gefangenen Offiziere vor offensichtlicher finanzieller Übervorteilung
durch die privaten Vermieter zu schützen. Die Ortskommandanten von
Augsburg und Nürnberg drohten der Bevölkerung schließlich
sogar mit zwangsweiser Einquartierung, falls nicht freiwillig in ausreichendem
Maß Privatunterkünfte angeboten würden. Eine besondere
Situation ergab sich im ehemaligen Königreich Hannover. Hier fürchteten
die Behörden, daß die seit der Annexion von 1866 virulenten
antipreußischen Ressentiments von in Privatquartieren untergebrachten
französichen Offizieren neue Nahrung erhalten könnten51.
Als
sich Mitte Januar 1871 die bevorstehende Kapitulation von Paris abzeichnete,
setzte in Deutschland eine sorgenvolle Suche nach winterfesten Unterbringungsmöglichkeiten
für die zu erwartenden rund 250000 neuen Gefangenen ein, und man
war sicher sehr erleichtert, als im Waffenstillstand vom 28. Januar 1871
in Art. 6 festgelegt wurde, daß die in Paris eingeschlossenen Truppen
zwar ihre Waffen abzugeben hatten, im übrigen jedoch in der Stadt
bleiben konnten und sich erst bei einer Wiederaufnahme der Kämpfe
förmlich in deutschen Gewahrsam begeben mußten. Die Repatriierung der Gefangenen begann sofort nach dem Präliminarfrieden nach den Regelungen einer speziellen Konvention vom 11. März 187152. Dabei führte der „kaum glaubliche Mangel an Eisenbahnwagons“ zu logistischen Problemen53. Wurden doch allein für den Rücktransport der knapp 39 000 noch in Bayern befindlichen Gefangenen 32 Züge mit jeweils 40 Waggons benötigt. Soldaten aus Elsaß-Lothringen sowie Angehörige der National- und Mobilgarde wurden dabei bevorzugt behandelt. Die Offiziere, die ihre Heimreise selbst bezahlen konnten und wollten, wurden sofort auf freien Fuß gesetzt. Auf den bayerischen Staatsbahnen erhielten sie 50% Fahrpreisermäßigung. Die Rückführung der Gefangenen wurde im April noch einmal kurzzeitig unterbrochen. Als es angesichts des Aufstands der Commune vorübergehend fraglich schien, ob sich die von Deutschland anerkannte Regierung Thiers in Frankreich durchsetzen würde, ordnete Bismarck am 10. April 1871 an, die Repatrüerung zu sistieren, um "durch Zurückbehaltung der Kriegsgefangenen ein Mittel in der Hand zu haben, die Anerkennung und Durchführung des Friedensvertrages unter allen Umständen zu erzwingen".54 Letztlich konnte das Reich aber doch auf die Anwendung dieses Druckmittels verzichten. Ende Juni war die Rückführung zumindest der Gefangenen aus Bayern abgeschlossen, und in den Lagern begann ein großes Aufräumen und Saubermachen. Schon im Frühjahr 1872 wurden die ersten Gedenksteine für in bayerischen Lazaretten verstorbene Franzosen errichtet. Nachforschungen nach Vermißten und die Übermittlung von Totenscheinen und Nachlässen beschäftigten die Behörden beider Seiten noch mehrere Jahre lang. |
51
NiedersHStA (wie Anm. 16) Nr. 6650 (9. Oktober 1870). 52 Ibidem Nr. 4862 (Abschrift). 53 BayerHStA (wie Anm. 14) B 940, Fasz. VIII (20. 12. 1871). 54 Berlin, 10. April 1871 (WürttHStA ibidem M 271c Nr. 4864, Abschrift). |
Der
deutsch-französische Krieg von 1870/71 hat das Kriegsgefangenenproblem
in einem bis dahin unbekannten Maß in das Bewußtsein der europäischen
Offentlichkeit gebracht. Aus der Tätigkeit internationaler Organisationen
für die Kriegsgefangenenfürsorge entwickelten sich Bestrebungen,
zu dauerhaften Abmachungen über die Behandlung von Kriegsgefangenen
zu kommen. Im Juni 1872 wurde in Paris eine "Société
internationale pour l'amélioration du sort des prisonniers de guerre"
gegründet, deren Ziel es war, einen Vertrag über die Behandlung
von Kriegsgefangenen zustande zu bringen, welcher der Genfer Konvention
von 1864 über den besonderen Schutz und die Pflege der Verwundeten
entsprechen sollte. Im Juli/August 1874 tagte dann in Brüssel auf
Grund einer Initiative des Zaren Alexander II. ein erster, von allen europäischen
Mächten und den USA beschickter Kongreß für Fragen des
Völkerrechts im Kriege. Er beendete seine Beratungen mit der Verabschiedung
von umfangreichen Empfehlungen und Vertragsentwürfen, doch es dauerte
noch mehr als 30 Jahre, bis diese Bestrebungen mit der Haager Landkriegsordnung
von 1907 zu einem endgültigen Ergebnis kamen. In der Zwischenzeit
hatten allerdings schon viele europäische Staaten eigene Reglements
für die Behandlung von Kriegsgefangenen erlassen. |
RÉSUME FRANÇAIS Cette
étude porte sur le sort qui fut réservé aux 400 000
prisonniers amenés en Allemagne durant la guerre de 1870/71. Elle
se fonde pour l'essentiel sur des sources d'archives, provenant des archives
publiques allemandes et (dans une moindre mesure) des archives du Service
historique de l'Armée de terre à Paris Vincennes. Jusqu'à
présent, il n'existe pratiquement pas de littérature scientifique
sur ce sujet. |
Manfred Botzenhart, Französische Kriegsgefangene in Deutschland 1870-1871, Sonderdruck aus Francia, Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte, publié par l'Institut historique allemand, Paris, Vol. 21/3, 1994, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen